Rückkehr nach Schlesien

 

Minderheit

 

Seit der Wende ist es den Deutschen in Polen  erlaubt, ihr Volkstum im Sinne einer "Minderheit" zu pflegen. Das bedeutet, die Schlesier dürfen nun Räume anmieten, um dort  Sing - und Volkstanzkreise sowie Kaffeerunden  zu veranstalten. Sie dürfen Spenden, Subventionen der deutschen Regierung sowie Mitgliederbeiträge einnehmen und diese verwalten, und sie dürfen nach vorgeschriebenen Satzungen Vorstände wählen, um später von diesen Tätigkeitsberichte entgegennehmen. Die Hinweisschilder "Deutsche Minderheit" sollten jedoch, um die polnische Mehrheit nicht unnötig zu irritieren, nur unauffällig an den entsprechenden Häusern angebracht sein.

In Jagnitz trifft sich die "Minderheit" mittwochs, 17.00 Uhr.

 

Ich bin als Gast geladen. Erika, Robert und Herr Potzada sind meine Begleiter. Das Haus der "Minderheit" liegt etwas abseits am Ortsrande und kann nur von einem Hofe aus betreten werden, so daß das kleine auf die "Deutsche Minderheit" hinweisende Schildchen über der Eingangstür bisher noch keinen Anstoß bei der polnischen "Mehrheit" von Jagnitz erregte.

 

"Wir Deutschen sind  die angestammten Bewohner des Ortes," sagt Erika. " Hier in Jagnitz sind wir die überwiegende Mehrheit. In den meisten anderen Dörfern machen die Deutschen die Gesamtheit der Bewohner aus. Unser Status aber ist der der "Minderheit". Können Sie das verstehen?"

"Seit ich in Schlesien bin,  habe ich das  Verstehenwollen eingestellt", sage ich. "Das  Unverständliche ist hier wohl immer das Normale."

 

"Das Unverständliche muß aber nicht unlogisch sein", entgegnet Herr Potzada. "Nach schlesisch - polnischer Logik ist es bei uns so: Vor der Wende waren wir von Polnischem so zugedeckt, daß nichts von uns herausschauen konnte. Gar nichts. Von außen gesehen konnte uns niemand von den Polen unterscheiden. Nun aber hat die polnische Verpackung Löcher bekommen, Risse und  schadhafte Stellen. Man kann von außen sehen, was darin ist: Deutsches. Da die Polen aber aus den verschiedensten Gründen Deutsches nicht mögen, beruhigen sie sich nun damit, daß das, was sie von uns sehen, ja nur "Minderheit" sei, Minderwertiges, befangen mit Tätigkeiten minderer Qualität wie z. B. Tanzen, Singen, Wählen  und Kuchen essen. Für uns aber, die wir uns nicht von außen sehen, sondern von innen, die wir das Innere der durchlöcherten Pakete eben sind, für uns ist das Deutsche nicht Minderheit,  für uns ist es:  Alles".

 

Josef lächelt nur mit den Augen, ohne das Gesicht dabei zu bewegen, eine Kunst, die ich bisher nur bei Halbwüchsigen und  Schauspielern beobachtet habe.

 

"Verstehen Sie das? Oder ist das zu schlesisch? Zu mystisch? zu versponnen?"

 

"Wenn das  schlesisch ist, sollte ich es verstehen. Meine Großmutter kommt auch aus Schlesien, aus Kreuzburg, und mein Ururgroßvater kommt aus Görlitz."

 

"So?" Herr Potzada, Josef, lächelt noch immer.

 

Das von außen unansehnliche, seit Kriegsende verfallende Haus der Jagnitzer "Minderheit" ist  innen mit allem nur Wünschbaren ausgestattet: Im Versammlungsraum stehen neue Tische und Stühle. Eine Schlesienkarte aus dem Jahre 1936 hängt an der Wand. In der Küche befindet sich Geschirr für mindestens 50 Personen. Das Büro verfügt über verschiedene elektrische Schreibmaschinen. In der Bibliothek werden Büchersendungen ausgepackt.

 

"Alle die, welche das Bedürfnis haben, sich in der "Minderheit" einmal nicht als Minderheit, sondern als Gesamtheit zu fühlen, kommen zu unseren Veranstaltungen", sagt Josef. "Sie werden es heute sehen. - Zweimal pro Woche ist auch unser Büro geöffnet. Wir machen reihum Dienst, ehrenamtlich, versteht sich. Sie, liebe Marianne, meinen vielleicht, es könne bei uns nicht viel zu tun geben? Es gibt zu tun. Wir Schlesier waren  lange genug  bei den Preußen, um zu  wissen, wie man sich zu tun macht: Wir verteilen unsere Einnahmen auf die einzelnen Ressorts, außerordentlich heikel und zeitraubend; wir schreiben Einladungen für unsere Veranstaltungen; wir pflegen Briefwechsel mit anderen hiesigen "Minderheiten"  und vor allen auch mit denjenigen von uns, die nach Deutschland gegangen  und  somit aus dem Zustand der Minderheit in den  der Mehrheit übergewechselt sind. Ich sage 'Mehrheit', denn die Polen sind ja nun schon in solchen Mengen ins verhaßte Land der Dummen und Stummen eingeströmt, daß von einer deutschen Gesamtheit nicht mehr gesprochen werden kann."

 

"Josef", sagt Robert, "kannst du dich als Vertreter der hiesigen mehrheitlichen Minderheit nicht einmal mehrheitlich verständlich ausdrücken? Was  soll denn Marianne denken?"

 

"Marianne denkt genau das, was sie denken soll. Wir beide haben ja schon geklärt, wie man hierzulande 'Verständlichkeit' betreibt."

 

Seine Augen lächeln weiter, unberührt von allen Bedrängnissen der Zeit.

 

"Das beste ist unsere Bibliothek", sagt Erika. "Es hat vor dem Kriege schon einmal eine Leihbibliothek in Jagnitz gegeben. Die jetzige ist größer. Das Auspacken und Einordnen der Bücher, die aus Deutschland kommen, dauert oft Tage. Wir hören ja selten etwas von eurer Bundesregierung, meist nur Absagen und Anweisungen zum Stillehalten. Mit Büchern aber deckt sie uns überreichlich ein, so, als wolle sie uns nach unserer Wiedergeburt als Deutsche von innen her ganz neu aufbauen."

 

Die neuen Bücher sind nach Themen geordnet. Unter 'Geschichte' finde ich:

 

Gerd Klaus Oschatz, Der Widerstand im Nationalsozialismus,

Joachim Hoppenheim, Adolf Hitlers Weg in den Krieg,

Sebastian Sonntag, Das Judentum in Breslau.

 

Unter 'Philosophie' ist folgendes aufgestellt worden:

 

Sabine Schargässer - Schneuzer, Die philosophischen Grundlagen einer multiethnischen Gesellschaftsform.

Karl Heinz Zubringer, Studien zur Überwindung der Nation.

 

"Lest ihr so was?" frage ich.

 

Erika wird  verlegen. "Sie wissen doch, wie es bei uns ist.  Obwohl wir Älteren deutsch lesen können, fehlt uns die Zeit. Die Jüngeren von uns könnten all die Bücher gar nicht lesen, auch, wenn sie die Zeit dazu hätten. Aber es ist doch so schön, die deutschen Wörter auf dem guten, teuren Papier anzusehen. Und die vielen schönen Bilder."

 

"Habt ihr auch etwas von Gustav Freytag?" frage ich.

 

"Ein polnischer Lehrer wollte uns einmal alle Bände von Gustav Freytag verkaufen. Er wollte aber zu viel Geld dafür haben. Wir konnten es nicht bezahlen. Schade."

 

"Bitte nicht darüber nachgrübeln, wie dieser polnische Lehrer wohl in den Besitz von Gustav Freytags 'Gesammelten Werken' gekommen ist", sagt Josef, "Solche Grübeleien könnten ausnahmsweise einmal zu sehr verständlichen Ergebnissen führen."

 

"Aber Eichendorff haben wir", fährt Robert fort, "und da kommt schon hin und wieder mal jemand, um ein Gedicht von ihm zu lesen, so wie früher." Er sagt 'friher' und schaut dabei mit seinen brauen Augen irgendwohin.

 

"Hier ist er, unser Eichendorff." Erika zeigt auf ein Bild des Dichters an der Wand.

 

"Und das ist Jagnitz, wie es einmal war. Auch das Haus unserer 'Minderheit' ist zu sehen. Es war damals eine Kohlenhandlung."

 

Inzwischen hat sich der Versammlungsraum der ehemaligen Kohlenhandlung von Jagnitz gefüllt. Die Tische sind gedeckt, Kuchentürme und Kaffeekannen bereitgestellt. Erwartung steht in den Gesichtern ringsum. Hier und da zeigt sich eine freundlich arglose Verschmitztheit. Noch hat die Mahlzeit nicht begonnen.

 

Was einmal war, das ist für immer. Ist es so? Und es kann jederzeit wieder eine neue Gestalt annehmen.

 

"Willkommen in Schlesien", sagt jemand. Es ist Stephan, der Besitzer der neuen Fenster und des rosa Badezimmers. Reihum muß ich derbe, feste Hände schütteln.

 

"Wir Schlesier backen gern. Und wir essen gern. Langen Sie zu!"

 

Wenn ich selbst auch nicht gern backe, so soll mir niemand nachsagen können, daß ich nicht gern esse. Ich lange zu.

 

Die Jagnitzer Minderheit hat heute Besuch.  Ein Vertreter der schlesischen Landsmannschaft - etwas schmaler, etwas besser gekleidet als die Hiesigen, aber dasselbe gutmütig bescheidene Gesicht - ist aus Westdeutschland gekommen, um Geschenke zu bringen: als Hauptgeschenk überreicht er einen Kopierer für den Deutschunterricht der  Kinder und fürs Büro. Die Freude des Gebenden und die Freude der Nehmenden, in Rede und Gegenrede ausgedrückt,  fließen zusammen zu einem verbindenden, den  Raum erfüllenden Glück.

 

"Das ist das schönste Geschenk, das ihr  uns machen konntet" ergreift Josef als Sprecher der Hiesigen das Wort.

 

"Dieses Geschenk wird uns  vor allem helfen, unsere allergrößte Sorge anzupacken, unsere Sorge für   unsere Kinder. Wenn wir auch in Zukunft Deutsche in Schlesien bleiben wollen", fährt er zu mir gewandt fort, " dann müssen wir unsere Kinder mit unserer Sprache neu verbinden. Erst dann können wir hier für alle sichtbar aus dem Zustand der 'Minderheit' wieder in den Zustand der 'Mehrheit' gelangen. Aber  Sie können sich denken, liebe Marianne, wie unser Weg dorthin von den Polen bestückt wird mit Minen und mit Fallgruben: Deutsche Kindergärten bräuchten wir. Diese aber werden erst eingerichtet, wenn die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen sind. Und die sind noch nicht geschaffen, sollen aber kommen. Deutsche Schulen, d.h., Schulen mit Unterrichtssprache: 'Deutsch' wird es erst geben, wenn genug Lehrer dafür  vorhanden sind. Die sind aber nicht vorhanden, weil sie hier nicht in genügender Zahl ausgebildet werden können. Und wenn einmal deutsche Lehrer aus der Bundesrepublik kommen, dann werden sie ins eigentliche Polen geschickt, um die polnischen Kinder zu belehren. Wir Schlesier sollten froh sein, heißt es dann, daß unsere Kinder wenigstens deutsch als Fremdsprache lernen können."

 

"Das Gute aber ist", fährt Erika fort, " unsere Kinder wollen deutsch lernen. Freiwillig kommen sie zu uns Älteren und fragen und fragen."

 

"Erika, erzähl doch, was du alles machst", ermuntert sie ihr Mann.

 

"Ja, wir haben in der 'Minderheit' eine Volkstanzgruppe. Zweimal im Jahr müssen wir zum Wettbewerb gegen andere Gruppen antreten. Die Kinder genießen es sehr."

 

"Auch ich bin beteiligt", sagt Robert. "Nicht selten ist morgens früh  4 Uhr die Nacht bei uns zu Ende, weil Mütterkolonnen anrücken zum Trachtenschneidern."

 

"Wenn wir nicht tanzen, spielen wir, deutsch natürlich:

'Wer kennt die meisten schlesischen Städtenamen?'

'Wer kann ein neues deutsches Gedicht am schnellsten auswendig lernen?'

'Wer weiß, wer Friedrich Barbarossa ist?'

'Wer hat den Namen: 'Friedrich der Große' schon einmal gehört?'

Es ist schon erstaunlich, wie selbstverständlich unsere Kinder das alles aufnehmen, so wie Pflanzen, die jetzt erst anfangen, die zu ihnen gehörende Nahrung aus dem Boden zu ziehen.

Immer wieder kommen auch  Lehrer freiwillig aus Deutschland zu uns, um mit unseren Kindern Ferienkurse in der deutschen Sprache zu veranstalten. Solche Lehrer kommen ohne bundesrepublikanischen Auftrag, ohne Lohn."

 

Die Kuchentürme sind nun abgetragen. Draußen hat sich die Sommerdämmerung über das schlesischen Land gelegt.

 

Die Gespräche versiegen. Die Schlesier in Jagnitz singen nun zum Abschluß ihre Lieder, welche sie noch vor gar nicht langer Zeit nur heimlich im Wald singen konnten.

Ich habe Mühe,  von dem, was mir aus diesen Liedern entgegenkommt, nicht überwältigt zu werden.

 

Hohe Tannen weisen die Sterne

 an der Iser wildspringender Flut.

 Liegt  die Heimat auch in weiter Ferne,

 doch du Rübezahl hütest sie gut.

 

        Hast dich uns zu eigen gegeben,

        der die Sagen und Märchen   erspinnt,

        und im tiefsten Waldesleben

        als ein Riese Gestalt annimmt.

 

        Komm zu uns an das lodernde  Feuer,

        in die Berge bei stürmischer Nacht!

        Schirm die Zelte, die Heimat, di  teure,

        komm und halte mit uns treue Wacht.

 

 

        Höre Rübezahl, was wir dir sagen,

        Volk und Heimat, die sind nicht  mehr frei!

        Schwing die Keule wie in alten  Tagen.       

Schlage Hader und Zwietracht  entzwei.

 

 

Und ein anderes Lied:

 

 Oberschlesien ist mein liebes Heimatland,

wo vom Annaberg man schaut ins weite Land,

wo die Menschen bleiben treu in schwerster Zeit,

  für dies Land zu kämpfen bin ich stets bereit.

 

 Wo die Schalen sausen in den Schacht hinein,

wo der rote Himmel glüht im Feierschein,

wo die Häuser grau und hell die Herzen sind,

dahin geht mein Sehnen, bis ich Ruhe find.

 

 Wo der Kumpel schaut dem Tod ins Angesicht,

wo die Mädchen lieblich und die Frauen schlicht,

 wo an dunkler Halde steht mein Vaterhaus,

da ist meine Heimat, da bin ich zu Haus.  

 

 Wo der Wind der weiten Wälder Wipfel wiegt,

wo verträumt und einsam manches Schlößchen 

liegt, 

wo im Odertale liegt so manches Gut,

Heimat, liebe Heimat, dir gehört mein Blut. 

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