Rückkehr nach Schlesien
Annaberg
Anreise
Zum Abschluß meines Aufenthaltes in Jagnitz fahren wir, Erika, Robert, Joseph und ich, in Roberts kleinem polnischen Auto zum Annaberg, dem heiligen Berge Oberschlesiens.
Grenzenlos erscheint das weite oberschlesische Land mit seinen geraden, schmalen Straßen. Wie in den Dorfstraßen steht hier und da, still ergeben, altersgrau geworden, am Straßenrand ein Heiliger auf seinem Sockel oder in seinem steinernen Gehäuse.
"Auf den Landstraßen haben manche dieser alten Bildstöcke ihre deutschen Aufschriften behalten. Hier hatte die Generalpolonisierung unseres Landes schon von Anbeginn an schadhafte Stellen. Die Polen laufen nicht gern, und nach dem Krieg hatten sie noch keine Autos", nimmt Joseph das Gespräch wieder auf. "Deswegen waren immer wieder Schlesier hier zu finden, einfach, um einmal irgendwo ein deutsches Wort zu lesen. Wir Schlesier lebten ja so viel mehr von dem, was wir nicht hatten als von dem, was wir hatten."
"Das ist in Deutschland noch heute so", sage ich. "Die meisten Deutschen in Deutschland leben viel weniger von dem Deutschen, das sie haben, als von dem Nichtdeutschen, das sie nicht haben. Mit Inbrunst versuchen sie derzeit, ihre Sprache mit amerikanisch aufzuschmücken. That's life."
Haben meine Begleiter mich verstanden?
Die Sommerhitze, ohne Bewegung, sonnendurchglüht, steht über dem Land. An den Rändern der wenigen schütteren Felder wachsen Kornblumen, leuchtend kornblumenblaue Kornblumen, die es bei uns schon lange nicht mehr gibt. Hoch oben in der Luft, unberührt von allem, was über Schlesien hingegangen ist, schwirren und jubeln die Lerchen.
Bald zeigt sich im fernen Dunst des Horizontes unser Reiseziel, eine lang gestreckte, von zwei Kirchtürmen gekrönte Erhebung.
Der Annaberg
"Der Annaberg ist unser einziger Berg, der diese Bezeichnung verdient", sagt Robert.
"Der Annaberg ist unsere Mitte und unsere Zuflucht. Es ist der Ort, an dem sich unsere Gedanken finden. Es ist der Ort, der uns das Bild unseres Wesens zeigt. Einst war der Annaberg der Sitz der Götter, die zusammen mit unseren Vorfahren nach Oberschlesien gekommen sind. Später, als die alten Götter dem dreieinigen Gotte samt seinen Heiligen weichen mußten..."
"Oder, anders gesagt: Als die alten Götter einfach nur ihre Namen änderten," wirft Josef, ohne sich um die irritierten Mienen seiner Begleiter zu kümmern, mit unbewegter Miene ein.
"Später also", beharrt Robert auf der Weiterführung seines Satzes, "später stand hier eine Wallfahrtskirche, gewidmet der heiligen Anna."
"Weiß denn unser junger Besuch, wer die heilige Anna ist?" fragt Joseph, und es ist nun an mir, irritiert zu schauen.
"Anna", erklärt Joseph, "ist die Großmutter des Gottessohnes, welche durch dessen Dauerpräsens an seiner Heiligkeit und Heilkraft Anteil hat. Anna beschützt die Bergleute und die Armen. Anna ist somit die Schutzheilige Oberschlesiens.
Im 17. Jahrhundert hat sich auf dem nun 'Annaberg' geheißenen Götterberge auch ein Franziskanerkloster eingestellt, welches mit der Zähigkeit derartiger Einrichtungen sämtlichen Vertreibungsversuchen widerstand. Weder Napoleon noch Bismarck noch Adolf Hitler haben die frommen Brüder auf Dauer vom Berge verjagen können. Wie Kräuter nach dem auf eine Dürrezeit folgenden Regen stellten sich jene nach Besserung der Umstände sogleich wieder ein. Zu sehr verlangte nach ihnen die oberschlesische Seele.
Nach 1945 jedoch erschienen die Mönche in neuer Gestalt: Sie waren allesamt polnisch geworden. Und unsere Anna schien uns Miene zu machen, sich um die oberschlesische Seele, welche sie einst hierher gebracht hatte, nicht mehr zu bekümmern."
"Nein, nein, nein!" Der Nachdruck in Erikas Stimme läßt keinen Widerspruch zu. "Die heilige Anna ist die unsere geblieben, mögen die Mönche hier sein, was sie wollen. Auf dem Annaberg fand im Jahre der Wende der erste deutsche Gottesdienst statt nach nunmehr 44 Jahren. Der ganze Berg war von uns Schlesiern bedeckt, von Schlesiern, die nach einem Menschenalter des Schweigens wieder das sein durften, was sie sind: Deutsche. Als wir damals zu Tausenden unser deutsches Annalied sangen, gab es wohl keinen, dem nicht die Tränen gekommen sind. Fast niemand von uns hatte geglaubt, unser deutsches 'Morgenrot' noch mit Augen zu schauen. Es war der schönste Tag meines Lebens."
"Unseres Lebens", verbessert Robert und zeigt mir das St. Annalied in einem mitgebrachten deutsch - polnischen Gesangbuch.
"Dieser Vers ist der wichtigste. Hören Sie:
Voll Mitleid und Erbarmen
warst du für jedermann.
Wie nahmst du dich der armen
verlaßnen Menschen an."
"Es ist ein einfaches Lied. Es ist unser Lied", sagt Erika, und sieht mich an. Ich spüre den Abglanz ihrer damaligen Tränen in ihren blauen Augen. Ich höre das oberschlesische St. Annalied, von Tausenden gesungen in der östlich breiten, in der mir so entrückten und mich dennoch so vertraut anmutenden Sprache.
Der Heilige Berg
Mittlerweile sind wir am Fuße des Annaberges angekommen. Wir fahren durch das Dorf Annaberg, welches sich mit seinen verstreuten Häusern den Berg hinaufzieht. Im oberen Teil des Dorfes verlassen wir das kleine Auto und steigen zu Fuß den Berg hinan.
Laubwald nimmt uns auf, Eschen, Eichen und Linden, welche ihre Wipfel über schmale, ins Verborgenen führende Wege, über Kapellen, Kreuzesstationen und Marienbilder breiten. Mir ist es, als ob die alten Götter des Landes, gleichgültig gegen Umbenennungen, Verkleidungen und Verwandlungen, noch immer in den grünen, lichtdurchfunkelten Blättern wohnen, als ob es im Grunde noch immer die alten Götter sind, die den Kommenden Kühle, Gelassenheit und Mut spenden.
Dunkel und langgezogen rufen ringsum die Holztauben in den hohen Baumkronen.
Im Inneren der St. Annakirche bleiben wir vor dem hölzernen Standbild der Schutzheiligen stehen:
Die schlichten Züge der Gottesgroßmutter sind von einem goldenen Tuch umgeben. Auf dem Kopf trägt sie, einer Tiara ähnlich, eine dunkelsilberne Krone. Ihr Körper ist eingehüllt von einem goldenen, mit allerlei Schmuckstücken behängtem Gewand, dessen Öffnung am Halse so weit ist, daß zwei kleine Köpfchen, das der Gottesmutter und das des Gottessohnes, herausschauen können. Auch die beiden Kleinen tragen entsprechende Kronen. Der göttliche Enkelsohn hält eine Weltkugel in seiner winzigen, aus dem großmütterlichen Kleid herausschauenden Hand.
Erika und Robert bekreuzigen sich und bewegen die Lippen.
"Die Heilige Anna ist zu sehr eine der unseren, als daß sie uns je im Stich lassen könnte."
Wer von beiden hat es gesagt?
Ehrenmal
Dort, wo das Gestein des ca. 4oo m hohe Annaberges steil zur Ebene hin abfällt und den Blick freigibt in die Weite des Landes, dort, wo man sich nicht nur aus der Enge des Raumes herausgehoben fühlt, sondern auch aus den Bedrängnissen der Zeit, dort steht, aus grauen Quadern aufgetürmt, ein Mal.
Es ist ein polnisches Ehrenmal mit grob gestalteten Flachreliefs an den Mauern: Symbole des Jahrhunderte alten Kampfes des polnischen Volkes gegen die Germanisierungsgefahr.
Auf einer, das Terrain des Ehrenmales gegen den Wald abgrenzenden Wand steht eine polnische Inschrift: "Von dieser polnischen Erde ging der Aufstand zur Befreiung Oberschlesiens aus", übersetzt Robert.
"Marianne, unsere Studierte, weiß sicher, welche polnische Erde gesäubert worden ist von den sich dort widerrechtlich aufhaltenden Teutonen", sagt Joseph.
Nun, im Niemandsland zwischen Wissen und Nichtwissen tastend, ist es abermals an mir, irritiert zu schauen. Annaberg? Aufstand? Was klingt da an?
Joseph, glücklich über mein verräterisches Zögern, läßt sich zur weiteren Belehrung nicht lange bitten:
"Als nach dem I. Weltkrieg die Volksabstimmung in Oberschlesien zur maßlosen Enttäuschung der Polen für Deutschland ausgefallen war, wurden die nach ihrer Meinung Betrogenen unter der freundlichen Duldung der Sieger einfach gewalttätig. Polnische Partisanenhaufen rotteten sich zusammen, zogen nach Oberschlesien und versuchten der zufrieden zuschauenden Welt einen Aufstand der gequält aufstöhnenden polnischen Volksseele vorzuexerzieren. Dieser Aufstand äußerte sich so, wie sich derartige Bewegungen in Polen immer zu äußern pflegen. Ich brauche nichts weiter zu sagen. Im besiegten Reich jedenfalls sah man in den Oberschlesiern damals noch Brüder, die man nicht gewillt war, in ihrer Wehrlosigkeit allein zu lassen. Obwohl vom verlorenen Kriege erschöpft, fanden sich aus allen Reichsteilen Freiwillige zusammen, um für Oberschlesien zu kämpfen. Am 21. Mai 1921 wurden die Polen, welche sich auf dem Annaberg gesammelt hatten, von den Deutschen geschlagen und vom Berge vertrieben. Ca. 50 junge Deutsche fielen. Wenn Ostoberschlesien dennoch ohne alles Recht den Polen zufiel, der Annaberg blieb deutsch."
Ich nicke dankbar, um Joseph zur Fortsetzung seiner Rede zu ermuntern.
"Gleich nach der Wende im Jahre 1933 wurde auf dem Annaberg eine Jugendherberge, die modernste des Reiches, gebaut, um unseren Heiligen Berg auch der Jugend nahe zu bringen.
Die Jugendherberge am Annaberg
Ein Ehrenmal für die hier Gefallenen folgte, gedacht als eine Stätte nationaler Besinnung. Das hieß in der damaligen Zeit: Den Göttern des Berges, genauer: den Kräften der Erde, der Bäume, des Windes sollten die christlichen Verkleidungen genommen und ihre alten Namen zurück gegeben werden. Ich habe als Junge an der Einweihungsfeier des Ehrenmals teilgenommen. Es war für mich ein ergreifendes Erlebnis."
Das deutsche Ehrenmal auf dem Annaberg
"Wenig später aber wurden die Mönche wieder einmal vom Berge vertrieben", ergänzt Robert.
"Wir Oberschlesier waren über die Wendung der Dinge nicht durchweg erfreut. Die Verkleidung der alten Götter hat sich doch so tief mit unserem Wesen verwoben, daß wir damals mit den unverkleideten Göttern nicht allzuviel anzufangen wußten. Die derzeit so Begeisterten waren mehr die aus den übrigen Gegenden des Reiches."
"Wie dem auch sei", antwortet Joseph, "wer könnte schon alle Deutschen jemals unter den sogenannten einen Hut bringen. 1945 jedenfalls, als den mitsiegenden Polen der Annaberg nun kampflos zugefallen war, haben sie sogleich das deutsche Ehrenmal zerschlagen und aus seinen Trümmern zur moralischen Festigung ihrer Beute ein Mal zur eigenen Ehre erbaut. Dieses ist dem ehemaligen deutschen nun aber so ähnlich geworden, daß man das deutsche unter Veränderung der Inschriften eigentlich auch hätte stehen lassen können. Man hätte denjenigen, die vielleicht einmal an dieser Stelle wieder etwas Deutsches bauen werden, viel Arbeit erspart."
Dann bleiben die Freunde lange stumm, schauen in die Ferne und suchen in dem unter ihnen liegenden Land vielleicht nach den Lerchen, nach den deutschen Bildstöcken oder nach den Kornblumen, die es im Westen nicht mehr gibt.
"Wie wird es nun weitergehen mit Oberschlesien, mit Schlesien?" frage ich. "Wird hier jemals wieder ein deutsches Denkmal stehen?"
"Wer, liebe Marianne, wollte das mit Gewißheit sagen." Joseph, der Vorstand der deutschen 'Minderheit' im oberschlesischen Jagnitz, spricht ernster als sonst.
"Schaut man allein in unsere Gegenwart, kann man eigentlich nur zu dem Schluß kommen: Schlesien wird nie mehr das werden, was es einmal war. Fast niemand in der den Deutschen noch immer so feindlich gesonnenen Welt möchte Deutschland um sein altes Ostdeutschland vergrößert sehen. Und den hier hereingeschwemmten Polen schmeckt das Unrecht zu süß, als daß sie je die Größe aufbringen könnten, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Und die Deutschen selbst? Sie wissen es ja, liebe Marianne: Die Deutschen haben sich in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich von Besiegten zu Mitsiegern über sich selbst gemausert. Sie tun nun freiwillig das, was die Polen im polnisch gewordenen Ostoberschlesien nach dem I. Weltkrieg noch vergeblich von ihnen verlangten: '...mitfeiern, Geld spenden, trotz ihres eigenen Unglücks triumphieren.' Erinnern Sie sich?"
"Die Deutschen sind starr geworden und leer", sage ich, "starr und leer wie das verlassene schlesische Land. Die Deutschen fühlen keinen Schmerz. Noch nicht."
"Nein, noch nicht", antwortet Joseph. " Aber das, was jetzt ist, bleibt nicht. Die Zeit hat immer das Bestreben, Erstarrtes zu lösen, Leere zu füllen, Schmerzen fühlbar zu machen und sie zu heilen."
"Und das Lebendige, das einmal war, das ist für immer", sage ich. "Ich weiß es, seit ich in Schlesien bin. Ich habe es gespürt. Schlesien, wie es war, kann jederzeit wieder Gestalt annehmen."
"Wir Schlesier sind ein geduldiges Volk", sagt Josef. "Wir verstehen es zu warten. Und auf unserer Seite sind unsere Götter, unsere Toten und das Recht."