Rückkehr nach Schlesien

 

B R E S L A U

 

Feenweg

 

Von einem Freund unserer Familie, wir nennen ihn Onkel Albrecht,   habe ich eine Breslauer Adresse: Feenweg 12. Onkel Albrecht ist Breslauer.  Im Januar 1945, kurz vor der Belagerung der Stadt, wurde er im Alter von 14 Jahren  mit seiner Mutter und mit seinen Geschwistern aus Breslau evakuiert. Die Rechtsanwaltsfamilie hatte  in einem Breslauer Villenvorort ein schönes Haus besessen. Dieses Haus, sein Elternhaus, hat Onkel Albrecht seitdem nicht mehr gesehen.

Als er von meinem Reisevorhaben erfuhr, trug er mir auf, als   Vertreterin   einer jüngeren, unverwundeten Generation doch einmal nachzuschauen, was in all den vergangenen Jahrzehnten aus dem Feenweg geworden sei.

 

Den einstigen Feenweg habe ich gefunden. Rissig und fleckig geworden stehen die   großzügig und solide gebauten Villen  noch so da, wie sie ihre ursprünglichen Besitzer verlassen haben. Nur die Bäume und die Büsche in den Gärten haben an Umfang zugenommen.

 

Meine Suche nach dem Elternhaus unseres Freundes führt mich zunächst in ein anderes Haus. Nein, hier habe zu deutscher Zeit kein Rechtsanwalt gewohnt, versichert mir in einem hinlänglichen Englisch der Hausherr, ein junger, schnauzbärtiger Pole mit vertrauenerweckenden dunklen Augen. Das sei im Hause gegenüber gewesen.

 

Dennoch  zieht er mich geradezu überschwenglich in das Hausinnere hinein und nötigt mich, in einem Gartensessel auf seiner Terrasse Platz zu nehmen. Die Terrasse ist von Baumkronen überschattet. Von allen Seiten wuchert es grün und blumig um die abgetretenen Fliesen. In den Ecken liegt Kinderspielzeug. Der junge Hausherr trägt Kaffeetassen herbei, setzt sich neben mich und macht Miene, mir sein Vorhandensein im Feenweg zu verdeutlichen: Seine Eltern hätten das Haus nach dem Kriege gekauft, und er selbst sei in diesem Hause geboren worden. Breslau sei somit seine Heimatstadt und die Heimat seiner Kinder. Zur Zeit arbeite er hier als Archäologe und helfe mit, Altertümer aus der Frühzeit Wroclaws auszugraben. Diese Altertümer wiesen durchweg auf eine slawische Urbevölkerung hin..

 

Freundlich schaut der Pole mich an und erwartet arglos meinen Beifall.

Soll ich oder soll ich nicht? Ich weiß, die Gründe zu widerstehen sind zwingend, und es gibt keine Entschuldigung dafür, der Verlockung dieser, wie mir scheint, einmaligen Gelegenheit einfach kampflos zu erliegen. Aber ich erliege doch. Verborgen hinter dem Schutzschild meiner mangelhaften Beherrschung der englischen Sprache, sage ich voll einleitender Rätselhaftigkeit:

"Don ' t you think, that life is full of hidden problems here in Breslau?"

Ich sage Breslau, nicht Wroclaw.

 

Noch geht kein Schatten über die glänzenden  Augen meines Gegenübers. Also arbeite ich mich in meinem ringenden, wörterhaschenden Englisch weiter voran, etwa so:

 

"Es ist absolut trostlos für einen Deutschen, durch diese Stadt zu gehen, überall Vertrautes, Deutsches zu erblicken und zu wissen: Es ist alles leer geworden. Alle die, die hier wohnten und die einmal zu mir gehörten, sind getötet oder ausgetrieben. Es sind andere. die nun hier leben, Fremde, deren Sprache ich nicht kenne. Können Sie mich verstehen? Deutsche sind doch auch Menschen mit einem Herzen."

 

Ich sehe den jungen Polen dabei nicht an.

 

"Ich kenne Menschen, die damals aus Schlesien verjagt worden sind. Man sagt, die Vertriebenen hätten sich mit ihrem erzwungenem Ortswechsel abgefunden. Aber das ist nicht wahr. Die Schlesier von damals haben sich nicht abgefunden. Sie sind nur zu stolz, ihren Schmerz, ihr Heimweh laut werden zu lassen. Schmerz vergeht nicht. Schmerz bleibt, auch, wenn man versucht, ihn nicht zu berühren."

 

Der junge Pole hört zu, aufmerksam und schweigend. Der Gedanke an  den zufriedenen Oberschlesier, welcher nur noch auf die Entschädigung für seine Häuser in Gleiwitz wartet, ist mir gerade jetzt ausgesprochen lästig.  Ich taste nach einer Brücke zu meinem Hörer:

 

"Ich weiß, als Mensch können Sie überhaupt nichts für diese Verhältnisse. Sie sind einfach hier hineingeboren, sowie ich hineingeboren bin in unsere deutsche Misere.  Aber sollen wir beide denn deswegen das Nachdenken einstellen? So tun, als wäre das alles normal, nur, weil es andere waren, welche dieses Durcheinander hier angerichtet haben?

Was würden S i e sagen, wenn plötzlich ein Deutscher  vor Ihnen stände, der als junger Mensch aus diesem Hause  fortgetrieben wurde? Nun ein alter, trauriger, heimatloser Mann? Was würden Sie empfinden, wenn  dem alten Breslauer die Tränen kämen beim Anblick des Gartens, in welchem er als Kind spielte? Der Freund unserer Familie, der im Hause gegenüber ein Kind gewesen ist, hat es noch nicht gewagt, wenigstens einmal zum Schauen nach Breslau zu kommen.

Aber ich weiß, ich tue Ihnen weh, wenn ich so rede. Die Lage ist für uns alle trostlos und kaum zu entwirren:  Die Lage der Deutschen, die aus Deutschland und  die Lage der Polen, die nach Deutschland getrieben wurden."

 

Alle Freundlichkeit  im Gesicht meines Gesprächspartners ist erloschen. Natürlich. Warum habe ich auch. Nun muß ich mich  in einer verschwommenen Zone zwischen Befriedigung und schlechtem Gewissen zurechtfinden.

 

"Das war doch der Krieg," sagt der Pole schließlich, wie zu sich selbst.

 

"Was geschehen ist, ist geschehen. Wir, die Nachgeborenen, können die Verhältnisse ja nicht mehr zurückdrehen. Wir können nur vorwärts schauen."

 

Er blickt verloren auf eine am Boden liegende bunte Holzeisenbahn, die offenbar seinem kleinen Sohne gehört.

"Aber Ihr Beruf ist doch die Vergangenheit. Haben Menschen nicht die Pflicht, eine ehrliche Ordnung in ihre Vergangenheit zu bringen,  egal, wie sie sich dabei fühlen.......?"

 

Der Pole schweigt. Ich habe die Brücke zu ihm nicht gefunden.

 

Als ich ihm zum Schluß die Hand gebe, habe ich das Gefühl, tief mit hineingezogen zu sein in die heillose Verwirrung, in welche sich zwei Nachbarvölker von anderen, von den Siegern des Krieges, hineinmanövrieren ließen.

 

 

Breslau, Feenweg 12

 

 

Im Feenweg 12, im Hause von gegenüber, öffnet mir eine nicht mehr junge, dafür recht korpulente Blondine in einer hellrosa Kittelschürze. Der einstigen Landessprache offenbar mächtig, hört sie sich mein etwa so vorgetragenes Anliegen ohne Bewegung an: Ich sei aus Deutschland. Der Freund meines Vaters sei der Sohn des einstigen Hausbesitzers, und ich wolle nur einmal fragen....

 

Nach gedankenreichem Schweigen schiebt mich die neue Inhaberin von Feenweg 12 durch die Haustür in das Hausinnere hinein. Wir stehen auf dem Parkettfußboden eines großzügigen, jedoch kaum möblierten Zimmers, dessen Wände rundum mit Teppichen zugehängt sind.

 

"Das ist das Wohnzimmer", erklärt mir die Frau. "Den Parkettfußboden habe ich mir selber legen lassen: Die Teppiche habe ich alle gekauft."

 

Sie sei im Kriege zusammen mit ihren Eltern in Warschau ausgebombt worden, fährt sie fort. Deswegen habe man  ihren Eltern dieses Haus zur Verfügung gestellt.

 

"Nun sind die Eltern tot. Das Haus ist mein Eigentum. Übrigens, ich unterrichte polnische Literatur an der hiesigen Universität."

 

Dann führt die polnische Professorin mich nach oben und zeigt mir das Arbeitszimmer des Hauses. Hier ist ebenfalls Parkettfußboden, und die Fensterscheiben sowie die Scheiben einer Balkontür sind wie Kirchenfenster in kleine Quadrate aufgeteilt und mit bunten Bildern bemalt: In einem der Fenster tanzt, wappenartig umrandet, auf  hellblauem Untergrund ein rot - blau gekleidetes Bauernpaar. 

 

 

Fenster im Feenweg 12

 

In einem anderen, von blauen Girlanden umgeben, sitzt eine weißgekleidete Prinzessin, welche wie im Nachdenken ihren Kopf in die Hand stützt. In einem dritten Fenster präsentiert ein  Ritter seine Waffen auf goldenem Grund. Die Balkontür ist geschmückt mit dem im durchscheinenden Licht besonders buntstrahlenden Breslauer Wappen.

 

"Diese Glasmalereien haben wir geschenkt bekommen. Vater hatte einen Sinn für so etwas und  ließ sie bei uns  einzusetzen", sagt die Hausherrin ohne Verlegenheit. "Und die Möbel" - das Zimmer ist mit dunklen, aufwendig geschnitzten Eichenmöbeln ganz einheitlich möbliert - "von den Möbeln haben wir nur diesen einen Tisch hier vorgefunden. Alles andere haben wir antiquarisch erworben."

 

Liegt Stolz in ihrer Stimme? Oder  auch ein Anflug von Betretenheit?

 

Ein bis unter die Decke reichendes Regal ist mit Büchern  zugestellt.

 

"Darf ich?" frage ich sie und schiebe mich, ohne eine Antwort abzuwarten, an die Bücherrücken heran. Es ist eine Bibliothek, welche offenbar von dem literatur- und geschichtsbegeisterten ehemaligen Hausherren zusammengetragen worden ist: Die deutschen Klassiker z.B. in  Luxusausgaben, mehrere  vielbändige Lexikareihen, verschiedene Biographien  Friedrichs des Großen  und die seiner  Feldherren, Preußische Geschichte von Leopold v. Ranke. Alles ist in Leder gebunden und nach Themen geordnet, aber offensichtlich lange, lange nicht mehr in die Hand genommen.

 

"Auch die Bücher hat mein Vater in einem unserer Antiquariate gekauft," höre ich die polnische Professorin sagen.

 

"Mein Vater konnte gut deutsch lesen."

 

Ich beginne hier und da zu blättern und gerate in Gefahr, die umgebenden Umstände vorübergehend aus den Augen zu verlieren.

 

Hans Grimm finde ich, Gesammelte Werke;  Gustav Freytag, Soll und Haben und Die Ahnen, Bücher, welche derzeit in kaum einem deutschen Universitätsseminar mehr zu finden sind.

 

Schließlich halte ich eine Festschrift des Breslauer Matthiasgymnasiums in der Hand, in welchem der Name meines fernen Auftraggebers mehrmals in Schülerlisten aufgeschrieben steht.

 

 

 

Das Matthiasgymnasium in Breslau, alte Postkarte

aus: http://www.vogel-soya.de/bilder/Schlesphoto.html

 

"Hier habe ich ein Buch aus der Schule gefunden, in welche unser Freund einmal gegangen ist. Darf ich es ihm mitnehmen? Es wäre für ihn eine große Freude."

 

Die überrumpelte Polin versteht, und ohne Übergang wechselt sie den Standort.

 

"Ja, Sie dürfen. Brauche das Buch nicht zur Zeit. Obwohl, man ist jetzt in Polen kaum mehr in der Lage, sich  neue Bücher zu kaufen.      Die Gehälter für die Intelligenz sind nur noch ein Hungerlohn. Dazu sind alle Subventionen für Universitäten gestrichen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu in diesem Land."

"Unser Freund hat mir etwas mitgegeben. Ich kann es für einen Fall wie diesen verwenden. Nehmen Sie es als kleines Dankeschön!"

 

Ich gebe ihr einen 20,- DM Schein. Mit aufrichtigerer Freude schiebt ihn die Beschenkte  in ihre Schürzentasche und geht in die Küche, um Kaffee zu machen, für mich heute den zweiten.

 

Wir setzen uns an das kleine, weiß gedeckte  Eichentischchen, dem allein das Anrecht auf seine deutsche Herkunft erhalten geblieben ist. Dabei erfahre ich noch viele bekümmernde Einzelheiten vom Schicksal der in Warschau ausgebombten polnischen Familie, und ich höre meiner Gastgeberin zu in ehrlicher Anteilnahme.

 

Statt mich noch einmal zu den bohrenden  Unerquicklichkeiten von vorhin verleiten zu lassen, zeichne ich mit dem Finger die bunten Figuren des Breslauer Wappens  nach, welche die Strahlen der niedergehenden Sonne durch ein Fenster hindurch auf das Tischtuch malt: das von seinem Körper abgetrennte Haupt des heiligen Johannes und den gelben Schein um den Kopf des heiligen Matthias, dem  einstigen Schutzheiligen der Stadt, welcher der Schule des kleinen Albrecht einmal seinen Namen gab.

 

Dann verabschieden wir uns voneinander im schönen völkerübergreifenden Einvernehmen. Ohne es direkt zu beabsichtigen, haben wir einander unerwartete Freuden bereitet.

 

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