Rückkehr nach Schlesien
Krieg
"Erzählen Sie mir auch vom letzten Krieg," sage ich.
"Zuerst kamen am Kriegsende wie überall die Russen, um sich auf die Frauen zu stürzen, die Männer zu erschießen oder sie auf Nimmerwiedersehen in ihre Taiga zu verschleppen. In unseren Häusern wohnten sie so lange, bis diese auch für Russen nicht mehr zu bewohnen waren.
Dann kamen die Polen. Vertreibung mit den für sie üblichen Methoden. Sie haben es ja auch eben gehört. Nur wir Oberschlesier in den Dörfern durften bleiben, um den neuen Landesherren als Arbeiter in ihrem neuen Besitz zu dienen. Die Polen säuberten uns aber wenigstens von uns selbst. Wir bekamen neue polnische Namen. Unsere Sprache wurde uns verboten. Wer weiter in der Öffentlichkeit deutsch redete, bekam nach polnischen Recht Prügel. Wer nicht polnisch sprach, kriegte keine Arbeit und konnte zusehen, wo er blieb. Nach Deutschland gehen, ging nicht mehr. Auf die Zwangsvertreibung folgte für uns die Zwangsverbleibung, so, als wären wir Vieh.
Und die Polen erschienen nun in unseren Dörfern, um nach dem zu sehen, was sie für das Rechte hielten. Sie erschienen als Behörde, als Polizei, als Lehrer, als Pfarrer. Und sie sahen nach dem Rechten, nach ihren Rechten. Sogar unter unseren Fenstern haben sie gestanden und gehorcht.
Was sollten wir tun? Uns gellten ja noch die Todesschreie unserer Brüder aus den Lagern ringsum in den Ohren. Die Schreie aus dem Lager Lamsdorf.- Ach, lassen wir das."
Robert schweigt.
"Wir waren wie Menschen," fährt Erika fort, "denen die Hände abgeschlagen worden waren, denn die Sprache ist für uns Menschen doch das Mittel, die Dinge ringsum zu ergreifen. Wir waren stumm, hilflos, jeder Willkür der Polen ausgesetzt. Wir waren so, wie die Polen uns schon immer haben wollten: Polnisch: Niemiec, der Deutsche, heißt auch: der, der stumm ist und dumm. Aus Angst, die Kinder könnten uns verraten, sprachen wir auch mit ihnen kaum mehr ein deutsches Wort. Auf der Straße mußten wir den Kleinsten den Mund zuhalten. Manchmal, wenn uns die Verzweiflung überkam, gingen wir, um unsere alten Lieder zu singen, in einen verlassenen Steinbruch oder in den Wald."
In der eigenen Heimat mit den Freunden und Verwandten die eigene Sprache nicht mehr sprechen dürfen, bei Strafe des Leibes und vielleicht sogar des Lebens? Das ist wieder ein neuer kindischer Streich der Polen, das Unrecht als Recht erscheinen zu lassen, eine neue Fratze des Absurden, unter welcher die hier Hereingespülten als rechtmäßig Zurückgekehrte einher stolzieren.
"Wie habt ihr denn das ausgehalten? Man kann doch nicht so mir nichts, dir nichts auf eine andere Sprache umschalten? Und dann auch noch auf die polnische?"
"Da es nirgendwo eine Hilfe für uns gab, haben wir es ausgehalten," sagt Erika. "Wir Schlesier sind ein geduldiges Volk. Wir haben uns 44 Jahre lang das Deutsche versagt. Wir haben 44 Jahre polnisch gesprochen, weil wir wollten, daß unsere Kinder leben. Die Treue aber zu uns selbst konnte vom Zwang zum Polnischen nicht erreicht werden. Sie hat uns geholfen, Deutsche zu bleiben und zu warten. Auf das deutsche 'Morgenrot'."
Dann spricht wieder Robert :
"Nach der hiesigen Wende in die so genannte Freiheit haben wir uns von der polnische Regierung wenigstens das Recht auf unsere Sprache erzwungen. Es gibt es uns nun wieder, uns, die deutschen Oberschlesier, noch ungefähr eine Million an der Zahl. Für die Polen war das eine peinliche Überraschung. Für eure bundesdeutsche Regierung übrigens auch. Aber was nun auch kommem mag, unsere Sprache lassen wir uns nicht ein zweites Mal nehmen.
Man könnte uns mit dem Wegerich vergleichen, der unauffällig auf den Wegen wachsenden Blattpflanze, welche sich unter den über sie hinweggehenden Füßen scheinbar wie für immer beugt. Läßt die Vielzahl und Schwere der Tritte aber nur geringfügig nach, so richtet sich der Wegerich wieder auf und wächst der Sonne entgegen, als wäre nichts geschehen. Man kann versuchen, den Wegerich auszureißen. Sein Wurzelwerk aber ist weit verzweigt unter der Erde und dem Zugriff der oben Stehenden gänzlich entzogen. Ohne der Vernichtungsversuche zu achten, wächst der Wegerich doch immer und immer wieder hervor."
Erika sieht mich mit ihren blauen Augen an. Robert, wie es seinem Wesen eigentümlich ist, hält den Kopf etwas gesenkt, um nach innen zu schauen.